An einem kühlen Sonntagabend sitzt Domenico Facchini in der Kombüse seines Kutters am Hafen von Molfetta und erzählt vom schleichenden Niedergang der traditionellen Fischerei. Es ist der Todestag seines Vaters.
Krisen habe es immer schon gegeben, sagt Fachini. Hohe Ölpreise, überfischte Bestände oder gierige Fabrikanten, die Giftmüll im Mittelmeer entsorgten. Schwere Zeiten eben, aber Krisen gehen vorbei. So dachten sie alle in Molfetta, einer kleinen Hafenstadt 25 Kilometer nördlich von Bari. 40 Kutter liegen hier vor Anker. Vor 20 Jahren waren es noch 160.
Das Problem, erklärt Facchini, seien nicht die Bestände, die Umweltverschmutzung oder der Barrelpreis – sondern die Konsumenten. „Die Italiener kaufen immer weniger frischen Fisch.“ Weil niemand mehr wisse, wie man ihn schuppt, ausnimmt und zubereitet, alle nur noch den schnellen Fraß wollen, das Futter aus der Tiefkühltruhe. „Hauptsache unkompliziert“, sagt der 53-Jährige und meint: barbarisch.

Sein Handy vibriert, WhatsApp, eine Kundin hat geschrieben. Ein kurzer Blick, dann tippt Facchini seine Antwort in das Display. Er habe diese Woche leider keine Meeräschen, ob sie Knurrhähne wolle, schöne Exemplare, neun Euro das Kilo? Erneutes Summen. „Wunderbar! Morgen gegen elf.“ In Ordnung, Grazie, bis morgen früh, viele Grüße, schreibt Facchini, den alle nur Mimmo nennen, hängt ein Smiley an und drückt auf „invia“, senden.
Als immer mehr Fischer ihre Kutter abwrackten, entwickelte Facchini eine Idee. Um auch außerhalb des Fischmarktes Geld zu verdienen. Um zu überleben. 2013 gründete er „Fish all days“. Das Prinzip: „Vendita diretta“, Direktverkauf. Seitdem liefert er seinen Fisch in einem Umkreis von 100 Kilometern bis an die Haustür. Die Kunden bestellen telefonisch, über WhatsApp, Facebook, Mail oder SMS. „Fisch wird in Zukunft am Schreibtisch verkauft“, sagt Facchini, der selbst nicht mehr zur See fährt.
Einer seiner Männer steckt den Kopf durch die Tür. Die Crew hat die Netze ausgeschüttelt, den Beifang über Bord geworfen und das Deck geputzt. Nach vier Tagen und Nächten auf dem Schiff wollen sie ihre Pause an Land verbringen. „Ihr könnt gehen, ich schließe dann ab.“ Am Nachmittag war die „Maria Domenica“ in den Hafen von Molfetta zurückgekehrt.
Facchini stochert mit einer verbogenen Aluminiumgabel in einer Schale rotgekochter Tintenfischärmchen und sagt, im Leben geschehe nichts zufällig. Auch der Krebstod seines Vaters nicht. Vor 27 Jahren. „Deswegen sind wir heute hier und führen sein Erbe weiter.“ Auf der Wachstischdecke liegt ein Zigarrenstumpen. Er hat doch wieder geraucht.
Im Türrahmen stehen Giovanni und Antonio, seine Söhne. Den Großvater kennen beide nur aus Erzählungen, die immer auch Geschichten über Familie und Fischerei sind; bei den Facchinis ist das nicht zu trennen. Der Vater wünscht sich, dass seine Söhne die Geschichte weiterschreiben und weiß, dass vieles dagegenspricht.
Das Schälchen auf dem Tisch ist leer, es riecht nach warmem Olivenöl und Knoblauch. Facchini schaut auf seine Armbanduhr. „Lasst uns essen gehen“, sagt er und niemand würde widersprechen. In zwei Stunden wird die Crew vom Landgang zurückkehren und die Kisten für den Fischmarkt vorbereiten.
Das Restaurant „I due Foscari“ liegt nur einen Steinwurf von der Anlegestelle der „Maria Domenica“ entfernt. Simone, der Koch, ist ein Freund der Familie. Er hat sich zu Giovanni und Antonio auf die Eckbank gesetzt.
„Wir mussten unsere Idee unter die Leute bringen“, sagt Facchini, während er Nudelnester auf seine Gabel dreht. Spaghetti alla Carbonara, sein Lieblingsgericht und natürlich ohne Sahne. Zuerst habe er Freunde und Bekannte angeschrieben. „Das Echo hat mir Mut gemacht.“
Mittlerweile gibt es Flyer, Aufkleber, Broschüren, Grußkarten, eine Facebook-Seite und drei WhatsApp-Gruppen mit 600 Mitgliedern. Täglich füttert Facchini alle Kanäle: Er zeigt, wo das Boot unterwegs ist, was gefangen wurde, gibt Rezeptideen, verschickt Hintergrundartikel und – er zögert kurz, zückt sein Handy, wischt durch einen Gruppenchat, tippt noch einmal auf das Display und dreht es in die Runde. Was jetzt kommt, hat er schon zu oft gesehen.
Halbinsel der Trabucchi
An der Spitze der Felsenbucht von San Nicola im Gargano wartet der Galgen: Ein Trabucco, Fischergalgen, ist ein Jahrhunderte alter Anglerbau. Familie Ottaviano geht damit noch immer auf Jagd – nach Touristen.
Das Video zeigt eine Gruppe asiatischer Frauen vor Bastkörben voller Garnelen. Neben ihnen dunkle Kästen, daran Schläuche mit spitzen Endstücken. Nahaufnahme: Mit einem Ruck bohrt sich die Metallkanüle in das helle Fleisch der Garnele und plopp, nur Millisekunden später, hat sich das Volumen des Tiers verdoppelt. „Wasser“, sagt Giovanni, „Silikon“, sagt Simone. „Ekelhaft“, flucht Facchini.
Er will, dass die Menschen verstehen, was sie da kaufen, welchen Mist sie sich reinziehen. Und gleichzeitig zeigen: Hier, mein Fisch ist keine Mogelpackung, Porca miseria, kauft bei uns!
Die Kellnerin räumt Teller ab. Ob wirklich alle satt geworden sind, will Facchini wissen. Kunstpause. „Gut“, sagt er und stellt seine Espressotasse auf den Tisch, „lasst uns gehen.“ Natürlich bezahlt: er.
2.30 Uhr. Facchini steht neben einer Industriewaage vor den Toren des Fischmarktes und spricht über Verantwortung. Um ihn herum wummert und quietscht es, stehen Türme aus Styroporkisten. Umgangston: Brüllen.
1962 kauft Facchinis Vater, Giovanni senior, sein erstes Boot, die „Vittoria Terza“. Das Geschäft läuft gut. Anfang der Achtziger kommt die „Maria Domenica“ dazu.
Als Giovanni senior am 12. Mai 1989 stirbt, hat Domenico keine Zeit, über seine Zukunft nachzudenken. Plötzlich steht er da. Mit der Verantwortung für zwei Boote, zwei Mannschaften, zwei jüngeren Geschwistern und dem Willen, es irgendwie zu schaffen. Nach einer Woche laufen die Boote wieder aus.
Sie schreien sich an und schimpfen miteinander. Und dann geben sie sich freundlich die Hand und lächeln über das soeben getätigte Geschäft. Eindrücke vom Fischmarkt in Molfetta.
Er habe andere Pläne gehabt, erzählt Facchini, während er das Gewicht der Tintenfischkisten auf einem Schmierzettel notiert. Vor dem Tod des Vaters hatte er eine Ausbildung zum Elektrotechniker gemacht, ein Ingenieursstudium in Bari begonnen. Fast drei Jahre lang habe er durchgehalten: Autobahn, Uni, Autobahn, Boot, Fischmarkt, Autobahn. Und schließlich doch aufgegeben. Im Hintergrund zieht ein schmächtiger Italiener mit rotem Flanellhemd und Zahnlücke einen badetuchgroßen Seeteufel in die Verkaufshalle.
Mitte der Neunziger dann die Krise. Die deutschen Fangflotten beherrschen den Markt. 1997 havariert die „Vittoria Terza“ Schiffbruch. Keine Toten, Grazie a Dio, sagt Facchini, aber Bergungskosten von 100 Millionen Lire, hunderttausend Mark. Ein neues Schiff? „Wir haben es nicht geschafft. Bis heute nicht. Ich musste einen Weg finden, mit nur einem Boot mehr Umsatz zu erzielen.“
Der Fisch ist gewogen. Facchini steckt den Zettel in die Innentasche seiner Jacke, dann läuft er los: weg von der Waage, hinein ins Neonlicht, am Wachmann vorbei, durch das Gittertor, jetzt ist er in der Halle, um ihn herum nur Gebrüll, Gebrüll, Gebrüll, er steuert auf seine Crew zu, stellt sich vor einen Stützpfeiler, zu seinen Füßen der Fisch und er: wartet. 3 Uhr nachts. Der Verkauf beginnt.
Wäre er wie die anderen Fischer, er hätte jetzt Feierabend. Stattdessen steht Facchini in einem Café am Hafen, trinkt den nächsten Espresso und sagt, er habe kein Problem damit, über Geld zu sprechen. 4.45 Uhr. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen.
2015 wird „Fish all days“ von der EU ausgezeichnet: „Best Practice“ steht seitdem auf allen Klebern, Broschüren, Grußkarten. Facchini und sein Sohn Giovanni werden nach Brüssel eingeflogen, Projektpräsentation, Anzug und Krawatte, eine große Sache. Sicher, Facchini fasst an seine Brille, für Außenstehende klinge es wunderbar: Ein moderner Traditionalist, Facebook und Fisch, hoppla, eine spannende, nein: eine Erfolgsgeschichte. „Aber“, sagt er und bricht ab.
Noch immer verkauft das Unternehmen zwei Drittel des Fangs am Fischmarkt, den Rest an der Haustür. 160 Kunden bestellen regelmäßig. 150.000 Euro Umsatz im Jahr, Facchini schreibt mit dem Finger Zahlen auf den Tresen, das sei weiß Gott nicht viel, aber es reiche, man könne davon leben, dank des Direktverkaufs sogar ordentlich. Wenn man bereit sei, Opfer zu bringen. Er arbeite 70 Stunden pro Woche. Mindestens.
Facchini muss zurück zum Boot, Bestellungen verpacken, den Van beladen.
Er signalisiert dem Barista: Zahlen bitte!
Facchini sitzt auf einem rostbraunen Poller vor der „Maria Domenica“ und schaut über das Hafenbecken. Gerade haben sich seine Söhne verabschiedet. Sie werden sich kurz hinlegen und dann nach Bari fahren, wo Giovanni Jura studiert und Antonio das nautische Institut besucht. Im Hafen ist es jetzt sehr still.
Noch habe er die Kraft, den Betrieb zu führen, sagt Facchini. „Ich weiß aber nicht, wie lange noch.“ Er sei häufig erschöpft, er müsste sich mehr Ruhe gönnen. Es klingt wie ein Patientengespräch, in dem er beide Rollen übernimmt. Facchini kann noch nicht aufhören. „Ich werde unser Projekt zum Erfolg führen.“
Haute Cuisine im Industriegebiet
Einfach Fisch: So lautet Angelo Sabatellis Küchen-Credo. Der apulische Sternekoch macht in einer geschichtsträchtigen Masseria, inmitten des Industriegebiets von Monopoli, aus klassischen Gerichten Geschmackserlebnisse.
Er hofft, bald zwei zusätzliche Mitarbeiter einstellen zu können. Einen für die Auslieferungen und einen, der den Fisch für die Kunden schuppt und ausnimmt. Die Italiener mögen es unkompliziert. Und er hat noch eine Idee: Nach seinem Vorbild setzen nun immer mehr Fischer in Apulien auf Innovation. „Warum also nicht unser Modell verkaufen und andere Flotten beraten, eine Art Franchising?“ So könne die Zukunft aussehen, ein Management auf nationaler Ebene, sagt er und denkt dabei an seine Söhne.
Sechs Uhr morgens. Facchini steht auf, klopft sich die Hose ab und geht zu seinem Van. In einer Stunde muss er beim ersten Kunden sein; zwanzig wird er heute beliefern, vier Stunden Arbeit liegen noch vor ihm. Die Zentralverriegelung schnappt auf.
Für heute hat er es geschafft. Facchini steht wieder am Hafen von Molfetta. Erleichtert und müde. Ob er sich eigentlich frage, was Großvater und Vater zu seiner Idee gesagt hätten. Zu WhatsApp, Facebook und Fisch. „Sie wären wohl ganz zufrieden mit mir.“ Facchini steckt sein Handy weg. „Nur hätten sie zehn Jahre früher damit angefangen.“