Foggia. In einem Glaskasten, groß wie eine Garage, liegt ein Haufen Schrott. Ein Klumpen aus zerbeultem Blech, zerplatzte Reifen, ein verbogenes Lenkrad. Struppig ragen Kabel aus allen Seiten. Aus den Polstern quillt Schaumstoff. Der Haufen Schrott, früher ein brauner Fiat Croma, Typ 154, heute ausgestellt auf dem Hof der Polizei. Vor knapp einem Vierteljahrhundert beherrschte das Bild des Autowracks alle Nachrichten.
Matilde Montinaro legt die Stirn an die Scheibe, die Schultern hochgezogen, und starrt auf die Trümmer, Reste eines Lebens, das ihr einmal sehr nah war und von dem sie doch wenig wusste. Es endete mit einem Attentat. Einer, der in dem Auto starb, war ihr Bruder, Antonio Montinaro. Matilde war damals 24 Jahre alt. Das Auto sieht sie heute zum ersten Mal.
Sie stellt ein weißes Blumengesteck vorm Glaskasten ab. Kurz nach neun Uhr, Schulkinder strömen in den Hof. Der Polizeichef eröffnet die Gedenkfeier, danach reden der Bürgermeister, der Polizeichef und zwei Angehörige von Opfern. Plötzlich wird es still, ein Ehrengast wird angekündigt: Matilde Montinaro. Sie erzählt den Kindern von ihrem Bruder. „Dass er Polizist war, wussten wir alle“ sagt sie, „aber dass er ein Leibwächter Falcones war, wussten wir nicht“. Zwischen den Brauen gräbt sich eine Falte in die Stirn. Wenn sie eine Pause macht, presst sie die Lippen zusammen. Sie schiebt den Schal vor die Brust, verschränkt die Arme, die Finger mit den feuerroten Nägeln umklammern ihr Smartphone. Matilde Montinaro schaut auf die Kinder, aber sie scheint sie nicht zu sehen, sondern etwas, das zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort geschehen ist.
500 Kilo TNT, fünf Tote
Am 23. Mai 1992 fährt Richter Giovanni Falcone mit seiner Frau und drei Leibwächtern Richtung Palermo in sein Wochenendhaus. Falcone war ein mutiger Mann, der dutzende Mafiabosse vor Gericht und ins Gefängnis brachte. An jenem Tag im Mai rächte sich die sizilianische Cosa Nostra. Bei der Ausfahrt Capaci, zündete sie eine Bombe unter der Autobahn. 500 Kilo TNT. Fünf Tote. Ein Krater, 35 Meter breit und 16 Meter tief.
Matilde Montinaro kannte Falcone damals zwar nur aus dem Fernsehen, der Name aber stand in ganz Italien für Mut und Engagement. Sein Tod erschütterte das Land. In den Nachrichten hieß es immer „Giovanni Falcone und seine Eskorte…“. Antonio Montinaro, den Namen ihres Bruders, erwähnte niemand.
Deshalb erzählt Matilde Montinaro, seit zehn Jahren in Schulen über ihren Bruder, fordert die Heranwachsenden auf, sich gegen die Mafia zu wehren.
Casarano. Anderer Ort, ähnliches Thema. Die Aula des Liceo Classico hat einen neuen Namen bekommen: Sie heißt jetzt Renata Fonte. Immer mehr Schulen, Straßen und Plätze werden nach Fonte benannt. Schülerinnen räumen Kuchenreste vom Buffet, Erwachsene schütteln Hände. Sie danken einer jungen Frau mit blonden Strähnen und großen Augen für ihre Rede. Viviana Matrangola, die Tochter Renata Fontes, hat gerade von dem Engagement ihre Mutter erzählt.
Renata Fonte war die erste weibliche Abgeordnete der Region Lecce, zuständig für Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit der PRI, Partito Repubblicano Italiano. Nicht mit allem, was die konservative Partei vorhatte, war sie einverstanden. Im Radio und Fernsehen rief sie dazu auf, den Bau eines Hotelressorts zu verhindern und rettete das Naturreservat Porto Selvaggio nahe ihrem Heimatort Nardò davor, zubetoniert zu werden. Im März 1984 wird sie vor ihrer Haustür von der Mafia erschossen. Befohlen hatte den Mord ein Rivale in der eigenen Partei.
Für ihren Kampf gegen die Bebauung des Naturreservats Porto Selvaggio wurde die Politikerin Renata Fonte umgebracht. Wie wichtig der Ort für sie war, zeigt sich in den Gedichten, die sie darüber schrieb.
Wer an Süditalien denkt, denkt an die Mafia wie an Orangenhaine und Olivenplantagen. Bekannt sind die sizilianische Cosa Nostra, die Camorra in Kampanien und die ’Ndrangheta in Kalabrien. Die besten Zeiten für die Mafia waren die achtziger und neunziger Jahre. Sie rekrutierte junge arbeitslose Männer, gab ihnen Jobs, finanzierte sich mit schmutzigen Geschäften wie Drogenhandel und Schutzgelderpressung. Apulien blieb davon lange verschont. Erst in den Achtzigern knüpfte die Camorra ein Netzwerk kleiner Clans im Stiefelabsatz des Landes. Aus diesem föderalen System organisierter Banden entstand Italiens vierte Mafia: die Sacra Corona Unita, die heilige vereinigte Krone.
„Die Mafia ist leise, aber sie hat viel Macht“
Seit den Tagen Giovanni Falcones hat sich einiges verändert. Bandenkriege, Mord und Totschlag in der Öffentlichkeit sind selten geworden, viele Söhne der Mafiosi besuchen teure Privatschulen, studieren BWL oder sogar Jura, sind Anwälte, Politiker und Unternehmer. Man nennt sie „Coletti bianchi“, weiße Kragen. Sie mischen ganz oben mit. Das große Problem ist die Omertà – das Schweigen. „Man weiß nie, wer vor einem steht“, sagt Francesco Capezza vor der Schule in Casarano, „keiner traut dem andern. Die Mafia ist leise, aber sie hat viel Macht.“ Der Anwalt kennt die Clans und ihre Geschäfte. Wie heißen sie? Was machen sie? Und wo findet man sie? Capezza tritt einen Schritt zurück, schüttelt abweisend die Hände, das kann er nicht sagen, nein, zu gefährlich. Er flüstert fast, sucht nach seiner Frau, verabschiedet sich. Es ist spät, er muss nach Hause.
Michele Calderola von Libera erklärt die Probleme bei der Vergabe der konfiszierten Güter.
Das Attentat auf Giovanni Falcone hat die Italiener aber auch aufgeweckt: Immer häufiger heißt es: Wir müssen etwas tun. Bei einigen jedenfalls. Unter dem Namen „Libera“ schlossen sie sich zu einer Gruppe zusammen, die ihr Land von den Mafia befreien will. Seit damals lesen sie in stundenlangen Gedenkfeiern die Namen von Opfern der Mafia vor, kümmern sich um die Angehörigen, gehen in Schulen, um Kindern ihre Rechte zu erklären, und veranstalten Workshops für Jugendliche aus aller Welt. „Die Mafia hat mir meine Familie genommen“, sagt Viviana Matrangola. „Damals war ich wütend und verzweifelt. Dann traf ich auf Libera und habe gemerkt, dass es Hunderten so geht wie mir. Mit Libera habe ich eine neue Familie gefunden.“
Aber Libera will nicht nur aufklären, sie will auch Ländereien und Häuser zurückgewinnen, die sich die Mafia einst unter den Nagel gerissen hat.
Seit den achtziger Jahren kann der Staat verurteilte Mafiabosse enteignen, aber es fehlte ein Gesetz, das die Nutzung der konfiszierten Güter regelte. Viele Gebäude standen lange leer, Obdachlose hausten darin, Vandalen verwüsteten sie. Libera übte Druck aus, sammelte Unterschriften, und 1996 verabschiedete die Regierung das Gesetz 109, das es möglich macht, die konfiszierten Güter wieder zu bewirtschaften. Bedingung: Die neue Nutzung muss dem Wohl der Gesellschaft dienen.
In Mesagne betreibt Libera Terra ein konfisziertes Gut und baut dort Wein, Getreide und Gemüse an. Wie wichtig dabei ein gerechter Lohn ist, erklärt Alessandro Leo, der Leiter der Kooperative.
Mesagne. Ein kleiner, runder Mann mit dunklen Haaren und grauem Bart wartet an einem romanischen Tor vor der Altstadt. Alessandro Leo ist Leiter von Libera Terra in Apulien und verwaltet in Mesagne ein konfisziertes Gut. „Diese Stadt war ein wichtiger Ort für die Sacra Corona Unita“, sagt er. „Ihr Gründer Pino Rigoli ist hier geboren.“
In seinem silbrigen Ford fährt Alessandro Leo über löchrige Straßen und Feldwege bis zu einem Haus, geschützt durch vier Meter hohe Mauern, bewacht von Kameras. Zwischen knorrigen Olivenbäumen und jungen Weinstöcken parkt er den Wagen. Auf dem Feld arbeiten acht Frauen in weißen T-Shirts mit Caps gegen die Sonne. Sie brechen die überflüssigen Triebe aus den Reben, singen, scherzen, necken sich.
Nur sechs von 500 konfiszierten Gütern werden bewirtschaftet
Das Land gehörte einem Mafia-Boss, der enteignet wurde. „Noch heute zeigen Grundstücke wie diese die Macht der Mafia“, sagt Leo. „Sie sind Ausdruck einer Kultur von Reichtum und Raub.“ Eine Kultur, in der vorgemacht wird, dass man alles haben kann, wenn man Einfluss besitzt. Der Mafioso wusch mit diesem Weingut Geld. Weil Apulien früher hauptsächlich von Landwirtschaft lebte, war Land ein Mittel der Macht. Mafia-Ländereien wucherten wie Geschwüre. Unter den neuen Besitzern scheint es, als sei der Krebs besiegt. Heute baut Libera hier traditionell apulische Rebsorten wie Primitivo und Negroamaro an, biologisch und nachhaltig, die Arbeiter werden ordentlich bezahlt. Guter Lohn für ehrliche Arbeit.
Eine der Frauen auf dem Feld ist Giovanna Leone. Die kleine Frau mit den hellblauen Augen und blondierten Haaren ist 30 Jahre alt. Seit sieben Jahren arbeitet sie auf dem Gut. Vorher kellnerte sie oder schlug sich mit schlecht bezahlten Jobs als Landarbeiterin im Norden Italiens durch. Immer weit weg von zu Hause. Das wollte sie nicht mehr:
Am Anfang hatte sie Angst, auf dem ehemaligen Mafia-Gut zu arbeiten. Sie wusste, es gibt Leute, die es übelnehmen, dass sie aus dem Verkehr gezogen wurden. „Manchmal habe ich immer noch ein mulmiges Gefühl im Magen“, sagt sie, „aber man muss einfach weiter machen.“
Inzwischen wurden rund 500 Güter in Apulien konfisziert. Nur sechs davon sind wieder bewohnt und werden bewirtschaftet. Die Vergabe ist kompliziert. Nachdem die Grundstücke konfisziert wurden, gibt es eine öffentliche Ausschreibung. Bewerben dürfen sich nur gemeinnützige Organisationen, die genau überprüft werden. Es kam vor, dass ein Mafia-Clan eine Kooperative gründete und sich damit um das bewarb, das einst ihm gehörte. Ist das Gebäude vergeben, werden die Bedingungen ausgehandelt: Das Grundstück bleibt Eigentum des Staats, Betriebskosten zahlen die neuen Besitzer.
Don Geremia Acri betreibt in Andria ein Flüchtlingsheim in einem konfiszierten Haus. Heute ist das Haus effizient und einfach eingerichtet. Als es noch dem örtlichen Mafiaboss gehörte, sah es dort aber ganz anders aus.
Andria. Eine Stadt im Norden Apuliens. An der ockerfarbenen Mauer weht die Fahne des Vatikans. Dahinter der Bischofssitz der Stadt. Auf einer Treppe im Hof erwartet uns Don Geremia Acri. Leger gekleidet, mit gegelten Haaren und einer auffällig blauen Brille passt der Prister nicht zu den anderen Geistlichen, die in Soutane den Hof durchqueren. Mit Hilfe von Kirche und Staat gründete auch Don Geremia ein soziales Projekt in einem konfiszierten Haus.
Das Projekt liegt in San Vincenzo, sozialer Brennpunkt am Rande Andrias. Seit Jahrzehnten leidet das Viertel unter Drogenhandel und organisierter Kriminalität. „Früher war das Haus eine Villa aus Marmor und Gold“, sagt Geremia, „der Mafioso wohnte hier mit seiner Familie.“ Heute ist es ein renoviertes Wohnhaus mit Balkonen und einem Spielplatz vor der Tür. Schlicht und effizient. Seit kurzem leben dort Flüchtlinge.
Resozialisierung im Bunker
Der Mafioso ist tot. Aber seine Angehörigen wohnen immer noch in dem Haus nebenan. Die Flüchtlinge haben deswegen keine Probleme, Don Geremia aber erhielt Morddrohungen:
Cerignola. Direkt neben einem Autobahnkreuz steht ein Betonhaus, fensterlos, ein Klotz in der Landschaft, abgesichert mit einem Eisentor. Rechts davon ein Picknick-Platz, links ein Garten. Hier pflanzen Kinder heute Getreide, jäten Unkraut, sind „Gartenpolizei“ im Laboratorio di Legalità Francesco Marcone. So heißt die Kooperative von Pietro Fragasso.
Dora Giannatempo leitet das Projekt TerraAut. Sie erklärt, warum gerade die Arbeit mit jungen Leuten im Kampf gegen die Mafia wichtig ist.
Verurteilte Straftäter und Jugendliche betreiben auf dem Gut ökologische Landwirtschaft und arbeiten damit ihre Strafe ab. Dabei lernen sie, dass sie auch ohne die Mafia eine Zukunft haben können. Manchmal lädt Pietro eine Schulklasse ein. Dann hilft ihm Dora Giannatempo, Leiterin eines anderen Anti-Mafia-Projekts ein paar Kilometer weiter. Es dauerte, eh sie dort Wein und Gemüse anbauen konnten. Illegal abgekippter Chemiemüll hatte den Boden verseucht, mehrere Schichten mussten sie abtragen. Deshalb findet sie es wichtig, dass junge Menschen von Kind auf lernen, den Boden zu schätzen. Nur so könne sich auch in Zukunft etwas ändern:
Nach ein paar Stunden haben die Kinder alle Setzlinge in Reihen gepflanzt. Vor dem Picknick-Platz erzählt Pietro ihnen die Geschichte dieses Ortes.
Das Laboratorio di Legalitá gehörte früher einem Mafioso. Heute werden dort Oliven angebaut. Und es ist ein Ort, an dem Kinder lernen sollen, dass man gegen die Mafia kämpfen muss. Pietro Fragasso, der Leiter der Kooperative, erklärt, warum konfiszierte Güter ein wichtiges Symbol sind.
„Wir nennen das Haus den Bunker“, sagt Pietro Fragasso. „Es hat keine Fenster und steht einfach in der Gegend herum.“
Rechts vom Bunker liegt ein Wasserbecken, Beton. Links eine Mauer, auch Beton. Monumente der Macht. Hier hat die Mafia ein Zeichen gesetzt, wie in Mesagne, wie in Andria.
Der Beton wird bleiben. Auf der Mauer aber steht in großen Buchstaben: Hier hat die Mafia verloren.