Musik

Soundtrack der Krise

Arbeit gibt es keine, und wenn doch, dann womöglich in einem Stahlwerk, das die Umwelt verpestet. Die Situation in Apulien erscheint trostlos. Auch die Musiker der Band Terraross beschäftigen sich mit der Krise in ihrer Heimat. Aber weg wollen wie auf keinen Fall. Denn: Apulien, so sagen sie, ist auch das Paradies.

Das Paradies beginnt gleich hinterm Proberaum. Weite Felder mit Wiesensalbei, Rosmarinbüschen und wilden Orchideen. Ein Canyon, der die eigene Stimme als Echo zurückschleudert. Und die Mandeln, frisch vom Baum, schmecken beinahe überrascht, dass sie im Mai schon geerntet werden.

„Kommt, ich zeig’ euch meine Kirche“, sagt Dominique Antonacci, einen Holzstock in der Hand, die langen Haare zum Dutt gebunden.

Mit sicheren Schritten bewegt er sich über den schlüpfrigen Geröllboden der Tropfsteinhöhle. An den Felsen über ihm glitzert das Katzengold wie ein Piratenschatz. Dazwischen döst kopfüber eine Fledermaus. Vor dem Steinbecken am Ende des Ganges hält er inne, Tau hat sich dort über die Jahre gesammelt. „Weihwasser“, sagt Antonacci. Er taucht den Zeigefinger hinein und zeichnet damit ein Kreuz auf die hohe Stirn. In einer Felsspalte klemmt eine Opferkerze mit dem Abbild der heiligen Maria.

„Musik ist Magie“

Antonaccis Heimat – ein Bilderbuchkaff auf einem Hügel am Rand der apulischen Karstlandschaft: Mottola. 16.000 Einwohner und seine ruhmreichsten Tage bereits hinter sich, seitdem sie einmal den Guinness-Rekord für die weltlängste Focaccia landeten. 634,5 Meter Brot. Das war vor zehn Jahren. Heute sind in der kleinen Bar auf der Via Europa schon lang die glutenfreien Eiswaffeln eingezogen. Ein kleiner Park, Spaghetti-Kreationen aus Lakritz und Pistazie und ein paar Gelaterias, die ihre Siesta verdammt ernst nehmen. Viele Anwohner haben eine Anstellung im nahegelegenen Stahlwerk gefunden – aber das Stahlwerk verseucht auch die Wiesen rund um die nahegelegene Stadt Taranto und erhöht die Krebsrate in der Region um gut die Hälfte. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 43,9 Prozent, die Zahl der Flüchtlingsboote, die an den Küste Apuliens ankommen, steigt.

Antonacci will hier trotzdem nicht weg. Wenn es keine Arbeit gibt im Mezzogiorno, dann muss man sie schaffen. Und wenn junge Menschen dem Stiefelabsatz in Scharen entfliehen, muss man ihnen Perspektiven zum Bleiben aufzeigen. Antonacci ist Sänger und Frontmann der Band Terraross. Gemeinsam spielen die Musiker die Pizzica Tarantella, die traditionelle Musik Apuliens. Früher galt die Pizzica als Heilmittel gegen den Biss der Tarantel. Kann sie heute eine Region in der Krise heilen?

Antonacci lenkt den kleinen Renault über die Serpentinen ins Tal. Vorbei an Olivenhainen und wildem Mohn, eine Hand am Steuer, die andere unterstreicht mit ausladender Gestik seine Geschichte.

Seit über zwanzig Jahren macht er inzwischen Musik. Schon als Jugendlicher verdiente er sich sein Taschengeld in den traditionellen „bandas“, den Blaskapellen Apuliens. Unterstützung bekam er keine, die Eltern wünschten sich einen Arzt als Sohn oder einen Anwalt. Hauptsache studieren! Aber Antonacci weigerte sich. Enttäuschte Eltern – sturer Sohn: der Künstlerklassiker. Heute kann Dominique mit der Musik seine Frau und drei Kinder ernähren. „Musik ist Magie“, sagt er. „Für ein paar Stunden bist du all deine Probleme los.“

Land ohne Wasser

Antonacci steuert den Viertürer in einen engen Kiesweg. Die Straße, an der das alte Haus liegt, hat keinen Namen. In den Olivenbäumen hängen Luftballonleichen von vergangenen Festen. An den Hauswänden sind Handabdrücke von Dominiques Kindern in rot und blau. Die morschen Holzbänke hat noch der Großvater gezimmert. Hier riecht es hier nach dem Apulien der Reiseführer: nach Zypressen und wildem Thymian.

„Willkommen in der Casa Terraross“, sagt Dominique. Hier draußen haben sie vor acht Jahren die erste Platte aufgenommen, hier treffen sie sich jeden Mittwoch zur Bandprobe. Neun Leute sind sie insgesamt. Zwei Tänzer, sieben Musiker, die mittlerweile alle von ihrer Musik leben können. Das war nicht immer so.

Apulien. Etymologisch hat das mehrere Bedeutungen. Es lässt sich unter anderem vom lateinischen a pluvia herleiten. Das Land ohne Wasser. Terraross – die rote Erde. Das ist die Farbe des Erdbodens rund um die Stadt Taranto. Rissig und trocken von der Sonne. In diesem Boden ist die Musik der Band verwurzelt, denn als sie sich vor zehn Jahren in Rom kennenlernten, verband sie vor allem eines: das Heimweh.

Mit Tamburin und Gitarre stellten sie sich auf die Piazza und spielten den Sound ihrer Heimat, die Pizzica Tarantella. Eine fröhliche Musik, mit der früher schon die Feldarbeiter die Anstrengungen des Tages vergessen wollten. Spontan begannen die Menschen zu tanzen – Terraross war geboren.

„Unser Name ist nicht politisch“, sagt Antonacci – aber es gibt noch etwas anderes, das die Erde bei Taranto rot erscheinen lässt: die Asche des größten Stahlwerks der Region. ILVA.

Apulien, glauben die Bandmitglieder, hätte allein vom Tourismus leben können. Der würzige Primitivo, der fangfrische Kabeljau, die tieftürkisen Badebuchten von Salento – es ist ein italienisches Schlaraffenland. Aber die Abgaswolken des Stahlwerks überschatten das Paradies.

ILVA hat vieles zerstört, sagt Dominique. Das Handwerk, den Tourismus und die Landwirtschaft. Aber es hat auch die Einstellung der Menschen verändert. Ihre Träume, Wünsche, ihr Antrieb – all das liegt unter dem roten Staub des Stahlwerks begraben. „Mangiare, laborare, dormire – basta“, sagt Antonacci. Essen, arbeiten, schlafen. Und am nächsten Tag das gleiche. „Dabei war Italien mal das Land der Künstler!“ Annarita Di Leo, Sängerin und Tänzerin der Band, schüttelt den Kopf. Der Stahlriese zahlt wesentlich höhere Löhne als in der Region üblich sind. Dafür, glauben sie, hat hier so mancher seine Ideale verkauft.

Musik_puglia_ahellge_0020 Foto: Anna Hellge

Puglia Sounds

Puglia Sounds ist ein Musik-Förderprogramm in Apulien. Es soll die Künstler, aber zum Beispiel auch Plattenfirmen, Festivalveranstalter und Tonstudios unterstützen. Puglia Sounds wird mit Mitteln aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung finanziert. Seit ihrer Entstehung hat die Organisation etwa 860 Konzerte auf der ganzen Welt gefördert. „So wie Wein und Käse aus Apulien in die ganze Welt transportiert werden – so soll auch unsere Musik ein Exportschlager werden“, sagt Sprecher Antonio Princigalli. Auch die Band Terraross hat für eines ihrer Musikalben einen Zuschuss von Puglia Sounds erhalten.

Giuseppe de Santo ist Songwriter bei Terraross. Ein Lausbubenlächeln unter wilden Locken. Er hat einen Song über ILVA geschrieben. I.L.V.A. – das „Institut für Umweltsünden“. Im Video wird Antonacci als Jesus gezeigt, der vom Kreuz steigt und Wunder für seine geschundenen Landsleute vollbringt. Am Ende geht er zurück ans Kreuz – aber Politiker und Wirtschaftsbosse nimmt er mit. Der Song prangert all das an, was das Stahlwerk den Bewohnern Apuliens beschert hat. Die Partito Democratico, die Partei von Ministerpräsident Matteo Renzi, lud sie kürzlich ein, bei einem großen Event aufzutreten. Das war vor I.L.V.A. Als der Song veröffentlicht wurde, zog sie die Einladung zurück.

Natürlich könnten sie auch von Liebe singen, sagt de Santo. Aber das ist ihnen zu profan. Als Künstler können sie die Regierung noch kritisieren, wo Journalisten schon längst Probleme bekommen würden. Mal tun sie es explizit, mal mit Codes – aber es nicht zu tun steht nicht zur Debatte. Ein Mittel der Pizzica ist seit jeher das Ironisieren und Überspitzen des Status Quo als Form von Protest. Deswegen gehen die Bandmitglieder in die Schulen der Region. Sie geben Tanzstunden und Tamburinunterricht und bringen den jungen Apuliern ihre Geschichte näher. „Unsere musikalischen Wurzeln gehen nicht nur die Alten etwas an“, sagen sie. Sie kämpfen für ihre Traditionen. Und das, glaubt der Ex-Soldat, ist ein Krieg den sie gewinnen können.

Die Pizzica ist eine Art Trance. Wie die Derwische wirbeln die Tänzer sich in Ekstase – „die erste Rave-Party Italiens“, nennt Dominique sie, „zu Ehren von Dionysos, dem Gott des Weins“. Aber für die Bewohner Apuliens ist die Pizzica auch ein Heilmittel.

Die Legende besagt, dass sie die Menschen von Spinnenbissen kurierte. Insbesondere Frauen, die „von der Tarantel gestochen“ waren. Heute weiß man um die metaphorische Bedeutung des Sprichwortes: Die Feldarbeiterinnen mussten oft bei sengender Hitze arbeiten. Sie wurden von Männern misshandelt und missbraucht. Die Folge: lethargische Zustände, wie sie angeblich auch der Biss einer Tarantel hervorruft.

Tanz gegen die Lethargie

Um das Gift der Tarantel zu bekämpfen, rief man Dorfärzte, die den Frauen die Pizzica verordneten. Die Patientinnen sollten wild tanzen und alles aus sich herausschütteln – für ein paar Stunden, ganz unter sich, um dann zur Arbeit zurückzukehren. So war die Pizzica auch immer ein Weg für die Frauen, ein wenig Freiheit in einer patriarchalischen Gesellschaft zu erlangen. Heute hat sich in das wilde Schütteln eine Choreographie eingeschlichen. Aber für Befreiung steht die Pizzica noch immer. Von Zwängen, von Problemen und – das glauben die Bandmitglieder – sie hat auch heute noch die Kraft, Menschen aus der Lethargie zu reißen.

Am Abend findet im benachbarten Castellaneta ein Fest zu Ehren des Schutzheiligen San Nicola statt. Eine volle Stunde wirbeln Sänger und Tänzer über die Bühne. Sie werden bejubelt, angefeuert und mischen sich schließlich unter das ausgelassene Publikum, das ihre Songs mitsingen kann. Am Ende des Abends ist Dominique Antonaccis Leinenhemd durchgeschwitzt bis auf die Haut, aber er strahlt und winkt mit seinem Zylinder in die Menge.

Ja, es gibt Probleme in Apulien. Vor den Toren der Stadt raucht und ächzt das alte Stahlwerk noch immer. Hinter den beleuchteten Fenstern bereiten junge Italiener ihre Abreise vor und vor der albanischen Küste legen vermutlich die nächsten Boote ab, auf dem Weg über die alte Schmugglerroute. Aber heute Abend, beim letzten Song, denkt niemand daran.

(Deutsche Übersetzung des Liedtextes „Apulia“ von Terraross, gelesen von Nora Gohlke)
 
 
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