Foto: Patrick Bauer

Familie

Die Strebsame

„Bamboccione“ nennen Italiener Erwachsene, die noch bei ihren Eltern leben: Riesenbabys. Lorenza, 19, ist anders. Sie sucht ihre Zukunft 725 Kilometer entfernt von zu Hause.

Aus ihrem Kinderzimmer im sechsten Stock hat sie einen freien Blick bis zum Horizont. Dahinter, hofft sie, liegt ihre Zukunft.

Es ist Anfang Mai, als Lorenza Carucci, 19 Jahre, in bequemer Leinenhose und weitem T-Shirt, die braunen Haare zum Zopf gebunden, an ihrem Schreibtisch sitzt. In ein paar Tagen hat sie wichtige Prüfungen, und ausgerechnet jetzt ist sie schwer erkältet. Neben ihr liegt eine Packung Grippostad. Ins Bett will sie nicht, obwohl die Augen tränen und der Schweiß von der Stirn perlt. Lorenza ist klug, heißt es in der Familie, aber ihre guten Noten hat sie sich vor allem mit Fleiß erarbeitet. „Schule ist wichtig für die Zukunft“, sagt sie.

Lorenzas Vater über die Pläne seiner Tochter.

Unten auf den Straßen von Alberobello, ihrer Heimatstadt, ziehen Touristen aus Deutschland, Amerika und Russland durch die steilen Gassen und verschwinden in den Trulli. Die Kegelbauten bestimmen das Stadtbild. Aus Lorenzas Fenster sehen sie aus wie spitze Pralinen, die am Hang kleben. Sie ernähren die 11.000-Einwohnerstadt, die dank dieser Bauart den Titel eines Weltkulturerbes trägt. In den meisten Steinhäuschen stehen bis zur Decke vollgestopfte Regale mit italienischen Lebensmitteln, aber auch billigem Kitsch wie Trulli-Schneekugeln. Wer an dem Ort nicht von Tourismus lebt, hat es schwer.

„Ich liebe Apulien, aber wo sind die Perspektiven“, sagt Lorenza. In dieser Region gibt es vor allem Katzen und alte Leute, aber wenig Zukunft. Im Herbst will sie nach Bologna, 725 Kilometer weiter in den Norden, Jura studieren, Staatsanwältin werden. „Das wollte ich schon immer.“

Apulien ist einer der schönsten Orte der Welt. Nur wo sollen wir arbeiten? Also müssen wir gehen. Lorenza

In Alberobello ist zu wenig los für junge Leute, findet sie. Meistens verbringen sie ihre Zeit in Stadtparks und Cafés. Kleinstadt eben. „In Deutschland ist das sicher anders“, glaubt Lorenza und ist überrascht, als sie von Bier trinkenden Jugendlichen auf Supermarkt-Parkplätzen hört.

Die Unterschiede zwischen deutschen und italienischen Jugendlichen zeigen sich innerhalb der Familien. Lorenzas Raum ist noch ein Kinderzimmer, kaum gealtert, auf dem Bett liegen Puppen, Minimäuse, auf dem Bettlaken sitzt ein kissengroßer Teddybär. Nur an den Schulbüchern und an gerahmten Fotos mit jugendlichen Gesichtern erkennt man, dass hier kein kleines Mädchen lebt. An der Wand hängt ein rundes Marien-Bild. „Hat meine Mutter hingehängt, ihr gefällt das“, sagt Lorenza. Der Raum gehört noch immer zum Territorium der Eltern. Ihr Zimmer, das sind zwölf Quadratmeter konservierte Kindheit.

„Es gibt immer einen Moment, wo man Hilfe braucht“

Auf dem Regal steht ein Foto mit ihr und ihrem Freund Simone, Wange an Wange. Seit fünf Jahren sind sie ein Paar. Er gehört fast schon zur Familie, ihr Vater drohte ihr zum Spaß mit dem Rauswurf, sollte sie sich je von dem netten Kerl trennen. Zusammen schlafen dürfen sie aber nicht. „Das macht man nicht in Italien.“ Sie erzählt von Parkplätzen, auf denen die Autos wackeln. Das ist normal, solange man noch unter dem Dach der Eltern wohnt, egal, ob mit 19 oder 25. Lorenza meint, Italiener sollten früher von zu Hause ausziehen, sonst bleiben sie „Bamboccioni“, Riesenbabys. Zu denen will sie nicht gehören.

Und doch bedeutet ihr Familie alles. „Der enge Zusammenhalt ist Glück, weil es immer einen Moment gibt, wo man Hilfe braucht.“ Sie sagt diesen Satz, weil sie ihn glaubt, trotzdem schwingt ein „Aber“ mit. Familie bedeutet auch die stille Verpflichtung zu teilen, selbst wenn man nicht teilen will. Lorenza nervt es, wenn sich die Verwandten einmischen, wenn jeder zu ihren Entscheidungen eine Meinung hat, aber nicht immer Verständnis.

So wie ihre Mutter Francesca Panaro. Sie betreibt ein Geschäft, mit dem schon lange kein Geschäft zu machen ist. Ihren Großeltern, später ihrem Vater, rissen die Touristen die gestickten Geschirrtücher noch aus den Händen. Der Trullo trägt den Namen „Il tempo ritrovato“, die wiedergefundene Zeit. Nur, dass sie keiner haben will. Heute kauft kaum jemand mehr die in Handarbeit gestickten Tischdeckchen und Betttücher. Manche Teile liegen schon seit 20 Jahren in den Vitrinen. Abgelegt und vergessen.

Die engen Maschen des Familiennetzes

Lorenza glaubt, das gleiche passierte mit den Träumen ihrer Mutter. „Vielleicht versteht sie deshalb nicht, warum ich wegziehen möchte.“ Mutter Francesca schüttelt den Kopf, wenn sie darüber spricht, dass ihre Tochter die meiste Zeit am Schreibtisch hockt. „Es gibt doch Wichtigeres im Leben, was sind schon Noten“, fragt sie. Und Lorenza denkt, warum verstehst du mich nicht, sie sind meine Hoffnung.

Das beruhigende Gefühl, auf die Familie zählen zu können, macht das Leben leichter. Milena

Aber nicht nur Lorenza hängt in den Maschen des Familiennetzes. Wird es an einer Stelle brüchig, muss jemand die Lücke schließen.

Lorenzas Tante Milena, 49, zog zurück nach Alberobello, als ihre Eltern krank wurden. Um sie zu pflegen, gab sie ihren Job als Gästebetreuerin in einem Hotel im Salento auf. Die Eltern versprachen ihr im Gegenzug einen Großteil des Erbes. „Früher war das selbstverständlich, dass sich die Familie um die Alten kümmert“, sagt sie. „Heute übernehmen das Pflegerinnen aus Osteuropa, oder ein Altersheim.“ Nach dem Tod ihrer Eltern bekam Milena ihre Stelle im Hotel nicht mehr zurück. Seitdem arbeitet sie im Trullo ihrer Schwester und träumt von einer zweiten Chance.

Auch Lorenza hofft. Sie fühlt, wie sie sich ihrem Ziel nähert, mit jeder guten Note ein Stück mehr. Einen Plan B? Gibt es nicht. Dafür die Angst, nicht gut genug zu sein. Und die Angst, dass Träume sich nur beim Blick aus dem Fenster so schön anfühlen, bis die Realität sie trübt.

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