Gleich kommt sein großer Moment. Giovanni Oliva, 29 Jahre alt mit akkurat getrimmten Bart und Hornbrille, wird die Bühne betreten und den Bewohnern von Locorotondo sagen, warum sie ihn wählen sollen. Seine Hände stecken in den Taschen, seine Schultern sind zusammengezogen, nervös blickt er hinauf zum Rednerpult. Fast 250 Menschen stehen erwartungsvoll auf der Piazza Dante. Endlich ist sein Vorredner fertig. Oliva nimmt das Mikrofon in die rechte Hand, die linke schnellt immer wieder in die Höhe: „Der Wind dreht sich in Italien, es muss sich etwas verändern. Wir werden am 5. Juni gewinnen!“

Locorotondo ist ein Städtchen in den Bergen Apuliens, 14.000 Menschen leben hier. Im Norden die Adria, im Süden das Ionische Meer. Die verwinkelte, von einer Stadtmauer umringte Altstadt, liegt auf einem Hügel über dem Valle d’Itria. Ein Tal gesäumt von Trulli, kleinen Häusern mit runden Steindächern. Olivenbäume wachsen auf der rötlichen Erde. Die Bevölkerung ist überaltert, die Jungen ziehen in Scharen weg: in den Norden Italiens oder gleich ins Ausland. Seit Jahrzehnten regieren rechtskonservative Parteien das Rathaus. Oliva will das ändern. Zusammen mit Freunden hat er die Liste „Porta Nuova per Locorotondo“ gegründet, übersetzt: eine „neue Türe“. Gemeint ist wohl eher ein Notausgang.
Im Norden Arbeit, im Süden Leben
Er tritt an gegen den Bürgermeister von Locorotondo: Tommaso Scatigna von der Popolo della Libertá, dem Sohn des größten Bauunternehmers der Stadt.
„Wir brauchen einen Neuanfang,“ ruft Oliva in die Menge. „Ich will ein Locorotondo, in der nicht nur die Freunde des Bürgermeisters bevorzugt werden“, sagt er, „die Italiener haben diese Politiker satt.“ An diesem Abend stehen neben Oliva auf der Bühne vor der alten Kirche ein Dutzend junge Lehrer, Anwälte und Angestellte. Er wird jetzt lauter, energischer. „Manche sagen, ich würde die Region nicht kennen, ich sei nicht mehr von hier, ich sei arrogant und unerfahren; ein Träumer.“ Er pausiert. „Aber“, ruft er, “lasst sie reden, wir werden gewinnen.“
Oliva ist für sein Alter schon viel herumgekommen. Vor zehn Jahren zog er weg in den Norden. Studierte Architektur in Ferrara, später in Schweden und Spanien. Anschließend fand er einen Job als Projektmanager bei einer Firma, die Freizeitparks entwirft. Er reiste viel im Ausland, er hätte, sagt er, Karriere machen können. „Aber irgendwann habe ich gemerkt, im Norden lebt man nur zum Arbeiten.“ Zu Hause in Apulien da waren die Freunde, die Familie, das Meer, das Essen. Er musste zurück.
Nun ist er seit einem Jahr wieder dort, wo er aufgewachsen ist. Wohnt sogar im selben Zimmer wie damals. Jeden Mittag isst er mit seinen Eltern zusammen. „Mamma“ und „Babbo“ sind seine fleißigsten Wahlkampfhelfer. Die Mutter arbeitet in der Stadtverwaltung, sein Vater ist Bankkaufmann im Ruhestand. Die Familie lebt seit Generationen in Locorotondo, jeder kennt sie. Giovannis Urgroßvater hat als Fotograf das Städtchen und seine Bewohner porträtiert, die Bilder hängen an den Wänden im Wohnzimmer. In einer Ecke steht auf einem Stativ noch die mannsgroße Vollformatkamera aus Holz. In den Regalen viele Romane, Gedichtbände, und dazwischen Theaterstücke. Giovanni Oliva tritt nicht nur auf die politische Bühne.
Generalprobe am frühen Morgen im etwas altersschwachen Saal des Theaters von Martina Franca, einem Städtchen in der Nachbarschaft. Die dunklen Polster der Stühle sind abgewetzt, der Holzboden rissig und knarrend. Ein roter Vorhang öffnet sich. Auftritt: Giovanni Oliva. Er trägt einen schwarzen Mantel, ein Kissen unterm Hemd, das Gesicht gepudert. Er starrt in den leeren Saal und singt die Moritat von Mackie Messer. Oliva spielt in der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht den Peachum, den Kopf der Londoner Bettelmafia. Skrupellos bekämpft er seinen Widersacher Mackie Messer. Peachum will seinen Thron behalten und Mackie Messer, den Konkurrenten, aus dem Weg räumen.
Drei Stunden später tritt Giovanni Oliva auf die Straße, in der rechten Hand einen Regenschirm. „Es könnte ja regnen“, sagt er. Die Rolle des Peachum, des berechnenden und kaltblütigen Gangsters hat er abgelegt. Ein ruhiger, fast schüchterner Mann steigt in seinen blauen Fiat Panda und fährt zurück nach Locorotondo.
Walhkampf ist hier Nahkampf
Lagebesprechung mit dem Wahlkampfteam. Noch drei Wochen bis zur Wahl. Das Wahlkampfbüro ist ein ehemaliger Krämerladen, in den Schubladen liegen noch Spielzeugpistolen, Hämmer und Bastelkleber. Der ehemalige Besitzer sitzt in der Ecke, ein hagerer, alter Mann, die Hände auf seinem Gehstock gestützt. Der 95-Jährige will, dass sich in Locorotondo was bewegt und will, dass er das noch erlebt. Deswegen hat er Oliva den Laden zur Verfügung gestellt, Spielzeugpistolen inklusive. Er glaubt an den jungen Oliva, der könne es schaffen, dass Korruption und Bürokratie Locorotondo nicht mehr lähmen. Oliva will mithilfe der EU den abgelegenen Landstrich aufmöbeln. Anträge für Fördergelder in Brüssel stellen. Tourismus, Infrastruktur und Schulen fördern. „Die alten Politiker nutzen diese Chancen überhaupt nicht. Der Bürgermeister weiß nicht mal, wie diese Mittel beantragt werden“, sagt er.
Wahlkampf ist hier Nahkampf. Von Tür zu Tür, klingeln, Ciao, Guten Tag, Hände schütteln, vor allem den Alten im Umland zeigen, dass Giovanni keiner „von draußen“ ist, wie seine Gegner behaupten. Der gar nicht mehr versteht, wie sie hier ticken. Im Raum sprechen sie durcheinander, manchmal laut und energisch. Oliva hört zu, macht Notizen, klickt unentwegt mit seinem Kuli. Vor der Tür läuft sein Wahlkampfsong in der Dauerschleife: Johnny B Goode. „Go, Johnny, Go“, sagt er. Seine Initialen, sein abgekürzter Name, Johnny: sein kleiner Geniestreich. Pepp, Jugend, Aufbruch und Rock’n Roll. Doch schon verlässt ihn die kurze Gelassenheit wieder. Er muss jetzt los, sagt er: Klingeln, Ciao, Händeschütteln.

Im Theater unterliegt Peachum seinem Widersacher Mackie Messer und das Stück ist vorbei. Bei der Wahl am 5. Juni stimmen nur 25 Prozent für Giovanni Oliva. Amtsinhaber Tommaso Scatigna erhält 65 Prozent.
Dann eben beim nächsten Mal, sagt Giovanni Oliva. Bleiben will er jetzt erst recht.