Olivenöl und frischen Fisch gibt es in Apulien in rauen Mengen, Perspektiven für junge Menschen hingegen sucht man vergeblich. Zumindest auf den ersten Blick, denn der Mezzogiorno gilt seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Jahrhunderten als wirtschaftlich abgehängt. Dementsprechend weit zurück reichen die Erklärungen: Die Bourbonenherrschaft wird ebenso verantwortlich gemacht wie eine unzureichende Industrialisierungspolitik in den Nachkriegsjahrzehnten. Hinzu kommt ein Vertrauensverlust in Institutionen und Funktionsträger. Die Folge: ein erheblicher Teil der Landsleute zieht in den „Norden“ – ein Begriff, der gleichermaßen die prosperierenden Regionen Norditaliens als auch das Ausland umfasst. Zwar hat Süditalien eine lange Tradition, was Auswanderung angeht – seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gibt es weltweite familiäre Verbindungen, die in Krisenzeiten aktiviert werden können. In jüngerer Zeit sind es aber vor allem die gut ausgebildeten, jungen Menschen, die ihre Heimat verlassen.
Die Rede ist von der „fuga di cervelli“, was wörtlich „Flucht der Gehirne“ heißt und vom englischen Begriff „brain drain“ abgeleitet ist. Verantwortlich für die Abwanderungswelle ist die Internationalisierung der Arbeitsmärkte, aber auch die Digitalisierung hat das Ihre dazu beigetragen. Denn gerade durch die sozialen Medien verliert die Emigration den Rang einer Lebensentscheidung, den sie in früheren Zeiten besaß. Stattdessen kommt es zu sogenannten „translokalen“ oder „transnationalen“ Räumen – das bedeutet: junge Menschen können heute vermeintlich an zwei oder mehr Orten gleichzeitig leben.
Waren es 2010 noch 1607 Apulier, die ihre Heimat in Richtung Ausland verlassen haben, stieg die Zahl in nur vier Jahren bereits auf 4625 – eine knappe Verdreifachung also. Auch die Arbeitslosenquote hat sich in Apulien von 13.2 Prozent im Jahr 2011 auf 19.7 Prozent 2015 erhöht.
Nährboden für Kreativität: das Programm Bollenti Spiriti
Bollenti Spiriti, auf Deutsch „kochende Geister“, ist ein Programm der Region Apulien, das 2005 gegründet wurde und sich speziell an junge Menschen richtet. Ziel ist es, Perspektiven für junge Apulier zu schaffen, die in einer der strukturschwächsten Regionen Europas leben. Fast die Hälfte der jungen Leute sind hier arbeitslos.
Gefördert werden Gründer mit innovativen Projekten, die einen sozialen Anspruch verfolgen sowie gute Erfolgsaussichten haben. Darunter fallen nicht nur Startups im klassischen Sinn, sondern auch kulturelle sowie städteplanerische Projekte.
Fördermittel können junge Menschen beispielsweise auch bekommen, die Pläne entwickeln für eine Umnutzung leerstehender Gebäude wie Kasernen oder Fabrikgebäude sowie von der Mafia konfiszierter Güter.
Insgesamt sind in den letzten zehn Jahren 80 Millionen Euro investiert worden, in circa 800 Projekte. Das Geld stammt nur zu ungefähr fünfzehn Prozent von der EU, zum größten Teil aber aus nationalen und regionalen Mitteln. 55 Prozent der Teilnehmer sind Frauen.
Das vielleicht erfolgreichste Projekte ist Blackshape Aircraft. Zwei junge Ingenieure erhielten 2008 eine Förderung in der Höhe von 25.000 Euro, um aus Kohlefaser Leichtflugzeuge zu bauen. Heute, acht Jahre später, haben sie 100 Angestellte und gehören zu den Weltmarktführern auf dem Gebiet der Leichtflugzeuge.
Doch gerade in Apulien gibt es mittlerweile auch erste Zeichen für einen Wandel – zumindest in den Köpfen. Das ist vor allem ein Verdienst von Nichi Vendola, der die Region von 2005 bis 2015 als Ministerpräsident maßgeblich prägte. Vendola, der sich selbst einmal als „schwulen, christlichen Kommunisten“ bezeichnet, ist es gelungen, in einer der rückständigsten Regionen Europas innovative Akzente zu setzen. So wurden in seiner Ära nicht nur Kunst- und Kulturprojekte gefördert, sondern es wurde auch eine Filmkommission ins Leben gerufen. Er setzte sich für den Umweltschutz ein und unterstützte grüne Technologien – seitdem ist Apulien nicht nur bei italienischen Linken zu einer beliebten Urlaubsregion geworden. Auch der digitale Ausbau scheint hier schneller und besser zu gelingen als in anderen Regionen Süditaliens. Viele EU-Subventionen fließen in junge, innovative Startups – die Rede ist bereits vom „Murgia Valley“ – benannt nach der Hochebene in der Mitte Apuliens.
Eigentlich hat Apulien nicht die besten Voraussetzungen für Innovation: Für klassische Startups braucht es ausreichend Risikokapital, eine funktionierende Infrastruktur und ein universitäres System, das sich auf Unternehmertum spezialisiert – all das fehlt in Süditalien. Zählt man allerdings kleine und mittelständische, von jungen Menschen geführte Unternehmen im kulturellen und kreativen Bereich dazu, stellt man fest, dass Apulien in den letzten Jahren stark aufgeholt hat.
Ein Grund zum Bleiben? Das lässt sich aktuell schwer abschätzen. Feststeht: Es gibt inzwischen durchaus Akademiker, die es nach Erfahrungen aus dem Ausland wieder zurück in die Heimat verschlägt oder andere, die sie gar nicht erst verlassen. Was treibt diese jungen Menschen an, was sind ihre Träume und ihre Hoffungen? Wir haben drei ganz unterschiedliche Personen begleitet. Monica, 37, hat Apuliens erste Coworking-Fläche gegründet, Luana, 29, hat ein Restaurant eröffnet, in dem Alt und Jung zusammen kochen und damit einen Innovationspreis gewonnen, und Fabio, 31, hat die gefährliche Arbeit in der Stahlfabrik ILVA für eine Arbeit auf einem Filmset aufgegeben. Drei Geschichten vom Weitermachen, Neuanfangen und Nichtaufgeben.